Details

Miriam Roner im Interview

Die SMG verleiht den Handschin-Preis 2018 an die Musikwissenschaftlerin Dr. des. Miriam Roner, die von 2013 bis 2015 an der Universität Bern im Forschungsprojekt Klingendes Selbstbild und Schweizer Töne tätig war. Die Preisverleihung fand am 29. Oktober im Rahmen der Hauptversammlung der SMG an der Universität Bern statt, wo Miriam Roner 2016 promoviert wurde.

Miriam Roner, was bedeutet der Handschin-Preis für dich?

Etwas pathetisch geantwortet: Ehre und Verpflichtung. Für mich kommen in der Verleihung nicht nur Anerkennung und Ermunterung für meine Arbeit und Person zum Ausdruck. Die SMG macht sich mit der Entscheidung auch für ein Forschungsfeld und für Fragestellungen stark, die abseits aktueller Trends liegen. Das finde ich gut und mutig, und das dürfte wohl auch ganz im Sinne des großen Namensgebers Jacques Handschin sein.


Warum hat sich bisher niemand umfassend mit Hans Georg Nägeli auseinandergesetzt?

Die Schweizer Musikwissenschaft interessiert sich schon seit langem für Nägeli – und hat dabei durchaus Problembewusstsein entwickelt. Schon in den 1930er Jahren kamen Edgar Refardt, Georg Walter und Rudolf Hunziker zu dem Schluss, dass Nägeli in keine der vielen verschiedenen Schubladen passen will, in die man ihn zu stecken versucht hatte: in die Schublade des Sängervaters, des ästhetischen Formalisten, sozusagen eines Hanslick avant la lettre, des Pestalozzischen Pädagogen… Man war sich einig, dass es eine umfassende Darstellung braucht, aber wie diese umfassende Darstellung zu schreiben wäre, blieb ein ungelöstes Problem. Schwierigkeiten bereitete Nägelis Vielseitigkeit, aber auch, dass er sich für Ziele einsetzte, die schwer auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind. Einerseits war Nägeli ein Verfechter der Musik als autonomer Kunst, andererseits engagierte er sich für eine soziale Praxis der Musik, in der sie als Mittel der Menschenbildung funktionale Bindungen einging.

In meiner Dissertation habe ich diese Schwierigkeiten offensiv zu wenden versucht und die These vertreten, dass künstlerische Autonomie und soziale Funktion von Musik sich nicht wechselseitig schwächen oder gar ausschließen, sondern, sofern Autonomie dynamisch gefasst wird, als Autonomisierung, ergänzen. Konkret hatte das u.a. zur Konsequenz, Nägeli als vielseitig handelnden Akteur des Musiklebens in den Blick zu rücken statt mich auf seine Schriften zu beschränken.


Was hat dich am Wirken von Hans Georg Nägeli fasziniert bzw. interessiert?

Etwas flapsig formuliert: Nägeli traut sich was. Er denkt Vokal- und Instrumentalmusik zusammen, lässt sich auf die Materialität der virtuosen Praxis ein und sieht zugleich in der Musik ein Mittel zur Veredelung der Menschheit. Sein Verständnis von musikalischer Autonomie und musikalischem Werk ist dynamisch und sozial. Nägeli repräsentiert in exemplarischer Form die musikalische Welt, wie sie zur Zeit der Einführung der „ästhetischen Unterscheidung“ (Hans-Georg Gadamer) war. An Nägeli zeigt sich, dass wir uns die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu leicht machen, wenn wir „Werk“ und „Werktreue“ als Requisiten eines statischen, petrifizierten „imaginary museum“ (Lydia Goehr) denunzieren.


Welche Herausforderungen stellt die Stelle in der SLUB für dich als Forscherin? Was gefällt dir an der Arbeit in einem Archiv?

Ich bin in der SLUB für den Bereich Musikhandschriften und musikalische Nachlässe nach 1850 zuständig, und meine Aufgabe besteht darin, die vorhandenen Bestände in Nachlassverzeichnissen und Datenbanken zu erschließen und an einer sinnvollen Bestandsergänzung mitzuwirken. Insofern bin ich zunächst einmal weniger damit beschäftigt, selbst Forschung zu betreiben, als Forschung zu ermöglichen. Die SLUB ist im Übrigen – anders als die Sacher-Stiftung oder das Deutsche Literaturarchiv in Marbach – primär eine Bibliothek.

Aber ungeachtet dieser Einschränkung bereichert die Arbeit mit Quellen zur Musik des 20. und 21. Jahrhunderts auch meine Kenntnis der Musik und meine wissenschaftlichen Perspektiven auf die Musik. Das ist ein Repertoire, mit dem ich bislang vorwiegend als praktische Musikerin zu tun hatte und dem ich mich nun von vielen Seiten widmen kann. Der Austausch mit „lebenden“ Komponisten, die wir für unser „Archiv zeitgenössischer Komponisten“ zu gewinnen versuchen, ist enorm anregend. Die Betreuung von Studierenden, Wissenschaftlern und Musikern, die unsere Bestände nutzen, und die Beantwortung von Nutzeranfragen bieten regelmäßig willkommenen Anlass, in die reichen Bestände der SLUB und das Fragenpotential einzutauchen, das sie enthalten.

Im Übrigen denke ich, ist es für Musikforscher wichtig, die aktuellen Veränderungen im Bereich des Bibliotheks- und Informationswesens und des Forschungsdatenmanagements zu kennen und aktiv mitzugestalten. Dafür bietet die SLUB, die sich als Vorkämpferin für dieses Neuerungen versteht, reichlich Gelegenheit.


Wirst du auch weiterhin Forschung betreiben?

Im vergangenen Jahr hat mir ein Stipendium des DLA Marbach die Möglichkeit gegeben, Forschungen zu August Halm voranzubringen (der übrigens, 100 Jahre nach Nägeli und unter anderen, krisenhaften Bedingungen, ganz ähnliche Fragen an die Musik stellt und eine ähnliche Art des Umgangs mit Musik pflegt). Unmittelbares Ziel ist (gemeinsam mit Thomas Kabisch) eine kritische Edition der Musikkritiken, die Halm zwischen 1901 und 1903 bzw. 1913/14 geschrieben hat.

In den Themenbereich Musikkritik fällt auch ein Projekt zu Carl Dahlhaus und seinem Wirken als Musikredakteur der Stuttgarter Zeitung. Darüber habe ich vor Jahren meine Masterarbeit geschrieben und einen Aufsatz veröffentlicht. Ein erster Versuch, ein Stipendium des SNF für eine vertiefte und erweiterte Fortführung dieses Vorhabens zu bekommen, ist zwar gescheitert. Aber ich halte dennoch das Thema und den Ansatz für erfolgversprechend, und vielleicht hilft ja der Jacques-Handschin-Preis…

Als Desiderat, das in meiner Dissertation sichtbar, aber nicht bearbeitet wird, steht eine Auseinandersetzung mit Nägelis Kompositionen an. Angemessene Kategorien zu entwickeln für Kompositionen, deren Bezug zur Kompositionsgeschichte wesentlich ideengeschichtlich vermittelt sind und die andererseits von praktischen Erfahrungen eines Verlegers, Herausgebers, Chorleiters geprägt sind, ist eine Herausforderung.


Bist du noch aktiv als Akkordeonistin?

Tatsächlich bin ich seit einem Konzert mit Werken für Akkordeon und Klavier (u.a. von Jaime Padrós) in der spanischen Vertretung in Bern nicht mehr öffentlich aufgetreten. Das liegt einige Zeit zurück. Mich hat immer Kammermusik am meisten interessiert. Aber die Menschen, mit denen ich früher gemeinsam musiziert habe, leben und arbeiten heute in anderen Regionen und Ländern. Gegenwärtig hat die Beschäftigung mit meinem Instrument noch keinen Platz gefunden zwischen Vollzeitjob, Forschung und regelmäßigen Fahrten zwischen Dresden und Berlin, wo mein Mann lebt. Aber das Akkordeon wird wieder „nach vorn kommen“. Schließlich wissen wir spätestens seit Nägeli, wie wichtig der handgreifliche Umgang mit dem Instrument ist, um musikalische Erfahrungen zu machen.